Am Freitag trat Gerald „Gerry“ Hagen seine letzte Reise an. Zu diesem traurigen Anlass wurde Ronald Toplak gebeten eine kleine Rede zu halten. Nachfolgend gibt es die komplette Rede.
Für alle, die nicht dabei sein konnten. Und die Weggefährten, die dabei waren: Meine Grabrede für Gerald "Gerry" Hagen. Eine Zeitreise.
"Halllooo, der Geryyyy ist hier!" Mit seinem ihm ureigenen Tonfall sang er förmlich ins Telefon. Leise. Bedächtig. Fast schüchtern. "Seh ick doch", antwortete ich zumeist burschikos. Manchmal auch genervt. Das gebe ich zu. Was unsere doch konträren Charaktere ganz gut beschreibt. Introvertiert. Extrovertiert. Der totale Gegensatz. Während ich fast immer unter Volldampf stand, die Ventile der Maschine am Anschlag, ruhte Gerry in sich selbst. Tiefenentspannt wäre eine Untertreibung. Gegen ihn würden mediative Zeremonien in einem buddhistischen Kloster wie eine Techno-Party wirken. Konzentration auf das Einfache, die Balance, das Wesentliche. Ja, Gerry wäre ein perfekter Mönch gewesen.
Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass man als Reporter ein gewisses Geltungsbedürfnis nicht verleugnen kann. Gehört praktisch zum Job-Profil. Gerry dagegen hielt sich lieber im Hintergrund.
Das war nicht immer so. Auch Gerry hatte seine wilde Zeit. Er schwärmte von den 80er-Jahren. "Ich bin ein Kudammkind", sagte er mir. Damals begannen seine Nächte abends um acht Uhr. Oder später. Startschuss im Yesterday. Dann zog er mit seinen Freunden weiter in den Irish Pub, schaute im Big Eden vorbei, in der Sperlingsgasse, Kuh-Dorf, im Pupasch, Level, Sly, Chaplin's Garden, Riverboat. Man konnte von einem Laden in den nächsten ziehen. Es steckt viel Geschichte in diesem Nachtleben. Hier lagen vor der Wende die Clubs, die wirklich Neues nach Berlin brachten. Das waren die Läden, in denen die amerikanischen Soldaten ausgingen, die während des Kalten Krieges in Berlin stationiert waren. Man tanzte im Dschungel, Early Bird, Far Out oder Sugar Shack zu Soul, Funk, Disko und NDW. Da war zum Beispiel das Linientreu in der Budapester Straße, in Sichtweite von der Gedächtniskirche. EBM, Joy Division, Erasure, Anne Clark und Depeche Mode standen im Kult-Schuppen auf der Playlist. Letztere sollen dort ein- und ausgegangen sein, die Band lebte damals für kurze Zeit in Berlin. "Wenn du nicht auf dem Kudamm warst, hast du wirklich was verpasst," sagte Gerry. Man konnte hoch aufs Europa Center fahren und von der Aussichtsplattform auf dem Dach auf die Stadt schauen. Dort wurde auch eine Szene von “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” gedreht. Drumherum standen die legendären Berliner Kinos: Gloria Palast, Zoo Palast, Filmbühne Wien, Marmorhaus. Vor allem aber der ultimative Zelluloid-Tempel Royal Palast: "Mit der damals größten Leinwand Europas. Einmalig!", erzählte Gerry. Das KaDeWe war nicht weit. Im Ku’Damm-Eck residierte das Panoptikum. Ein Kaffee im Kranzler Eck galt noch als gesellschaftliches Ereignis. Der Kurfürstendamm war das pulsierende Herz im vom Ungetüm Mauer umgebenen West-Berlin. Spontis, Popper, Punks, Ökos, Normalos, Wehrdienstverweigerer. Eine kunterbunte Mischung. Mit all seinen Eigenheiten. Mittendrin - statt nur dabei: Gerry!
Jahrzehnte später besuchte er mich spontan in Spandau. In der urigen Kneipe, in der wir uns trafen, bediente Tante Inge. "Das ist doch? Ist das nicht ...". Richtig! Es folgte echte, ungekünstelte Wiedersehensfreude. Ingo, so der bürgerliche Name der Tresenkraft, war in den 80ern Chef des Stay Inn, einer bekannten und total angesagten Queerbar in der Lietzenburger Straße. Lange, bevor es ein solche Bezeichnung überhaupt gab. Warum auch? Diversität gab es, musste aber nicht mit abgrenzenden Begriffen beschrieben werden. Das war völlig normal im pulsierenden Maueruniversum, gehörte in diesem einzigartigen Biotop praktisch zur DNA. Alle waren da. Die Eishockey-Profis des Schlittschuh-Clubs, die Fußballer von Hertha, TeBe, Blau-Weiß 90, SCC, die Handballer der Reinickendorfer Füchse, Wasserfreunde Spandau 04, Basketballer vom DTV Charlottenburg, dem Vorgänger von Alba. Oder Walter Momper, Stammgast und später Regierender Bürgermeister. Leben und Leben lassen. So das Motto der Stadt. Vor allem von Gerry. "Schwarz, weiß, blau, rosa oder grün. Menschen sind einfach Menschen", zitierte er gerne Reggea-Ikone Bob Marley.
"Das waren Zeiten. Damals. Am Kudamm", schwärmte Gerry. Die er lebte. Und liebte. Es war fast ein Kulturschock, als sein Chef Peter und er nach Neukölln zogen. Sie veränderten sich von Immobilien-Maklern zu Hoteliers. Nicht weniger umtriebig. Aber es war eben ein neuer, völlig anderer Abschnitt.
Eishockey blieb der Anker in seinem Leben. Der Fixpunkt. Seine ganz große Leidenschaft. Hier fand er Ablenkung. Freude. Freunde. Berliner Schlittschuh-Club, Preussen, da war er Fan. Lenz Funk, Hans Zach, Hannu Koivunen, Stefan Metz, Lutz Schirmer oder Erich Weißhaupt. Georg Holzmann, Tom O'Regan, Tony Tanti, John Chabot, Franz Steer, Czeslaw Panek, Klaus Merk. Das waren seine Idole. Die Jafféhalle sein Wohnzimmer. Später die Deutschlandhalle. Unverkennbar. Herausstechend aus der uniformen Masse. Mit einem schwarzen Filzhut. Und Lodenmantel.
Als Aktiver jagte er bei FASS dem Puck hinterher. Er war ein gefürchteten Verteidiger. Seine kompromisslose Spielweise machte ihn bei der gegnerischen Anhängerschaft - formulieren wir es freundlich - nicht zwingend zum Publikumsliebling. Dirk, Chef von Hockeyweb, stammt aus Niedersachsen. "Das Stadion in meiner Heimatstadt Salzgitter war immer voll. Hexenkessel pur. Wenn FASS zu Gast war, polarisierte vor allem Gerry. Er war gnadenlos. Räumte alles ab. Motto: Slapshot. Eishockey wie in alten Zeiten. Klar, dass er ausgebuht und ausgepfiffen wurde. Was aber letztlich auch eine Form der Anerkennung war", erinnert sich Dirk. Umso erstaunlicher die Metamorphose neben dem Eis. "Da stand da plötzlich ein liebevoller, weicher, herzensguter Mensch. Der für jeden ein Ohr hatte, extrem hilfsbereit war."
Kaum eine Funktion, die Gerry nicht bei FASS ausübte. 24/7. Um es neudeutsch zu sagen. Fast bis zur Selbstaufgabe. Aber immer mit Herz. Sein ausgeglichenes, zurückhaltendes Wesen führte bei einigen Leuten dazu, Gerry zu unterschätzen. Was ihn störte. Auch, wenn er es sich nicht anmerken ließ. Vor allem aber war eine solche Arroganz ihm gegenüber ein fataler Fehler. Denn er war ein ausgewiesener Fachmann. Ein Eishockey-verrückter. Im positiven Sinne.
Immer wieder versuchte er, FASS in den Fokus zu rücken. Er schaffte es sogar, mich zum Fördermitglied zu machen. "Kannste ja von der Steuer absetzten", checkte er alle Zweifel weg. Rumms! Ehe ich mich versah, blinkte mein Name auf der Anzeigetafel im Erika-Hess-Stadion, stand mein Schriftzug auf dem Trikot eines Spielers. Immerhin, das Leibchen durfte ich am Saisonende behalten.
Eishockey als Lebensaufgabe. Lebenselixier. Etwa als Schöpfer und Moderator von Radio Eiskalt. Alles, was im Hauptstadt-Kufenkosmos einen Namen hatte, saß bei seinen Mitstreitern und ihm am Mikro. Angetrieben von einer Pumpe aus Hartgummi, floss durch seine Adern gefrorenes Wasser. Gerrys Gutmütigkeit wärmte dennoch seine Umgebung. Seine Welt war eine Scheibe. Was sich nicht ändern wird.
Da oben wartet schon der Lenz. A Krug steht bestimmt auch parat. Hartmut Nickel, Xaver Unsinn, Chris Lee, Lutz Tempelhagen, Jesse Panek, Mark Teevens, Stéphane Morin, Hermann und Harald Windler sitzen mit am Stammtisch. Gemeinsam mit seinen Freunden Thomas Zigan, René Jordan und Olli Koch wird Gerry Platz nehmen. Zum Fachsimpeln beim Legenden-Treffen. Detlev Minter gibt den Conférencier. Was für eine tolle Runde. Es gibt mit Sicherheit viel zu erzählen.
Hier unten, im irdischen Dasein, hinterlässt Gerry eine Riesenlücke. Ein Mann, der sich für andere aufopferte. Dabei aber leider viel zu oft nicht an sich selbst dachte. Der Bodycheck ins ewige Leben, er kam zu früh. Viel zu früh. Du wirst uns fehlen, Gerry! Aber wir sollten uns auch freuen, auf das, was ihn erwartet. Im Himmel. Er wird Spaß haben. Da bin ich mir sicher. In diesem Sinne: Ruhe, nein, lebe in Frieden. Mach's gut! Wir sehen uns wieder. Irgendwann!
Eine persönliche Anmerkung: Viele Weggefährten, vor allem von FASS Berlin, haben vor Ort Abschied und Gerald damit die verdiente Anerkennung für seine Leistungen gegeben. Es war schön zu sehen, wer alles mit dabei war. Und einige Absagen im Vorfeld zeigen, dass es auch einige Teilnehmer mehr hätte geben können und das hatte Gerald auch verdient. Nochmals Danke für alles Gerry.