Lutz Tempelhagen war ein Lebenskünstler. Ein Tausendsassa. Musiker. Taxiunternehmer. Eishockey-Präsident. Jetzt ist er nicht mehr da. Ein Nachruf.
Lutz Tempelhagen war ein Meckerkopf. Im positivem Sinne. Ein typischer Berliner eben. Er meckerte viel. Er meckerte gern. Er meckerte laut. Aber er meckerte herrlich. Herrlich herzlich. Herz mit Schnauze. Es machte Spaß, ihm zuzuhören. Weil er so viel wusste. Vom Leben. Nach dem er süchtig war. Das er in vollen Zügen genoss. Das prall gefüllt war. Er war ein Tausendsassa. Musiker, Taxiunternehmer. Sportfunktionär,
Druckereibesitzer, Zeitungsverleger. Am Ende wieder Musiker. Da war seine Stimme schon heiser.
COPD. Die Lunge. Zerstört. Unheilbar. Er hatte geraucht. Mit Leidenschaft. Früher. 50 Zigaretten am Tag. Und mehr. Zu viel. Das wusste er. Also jammerte er nicht.
Aber er meckerte. Mal wieder. Als wir ihn im Krankenhaus besuchten und beim Spaziergang die Glimmstengel anzündeten. Er zeigte mit dem Finger auf sich. Auf die Sauerstofftanks an seinem Rollstuhl. Schüttelte den Kopf. Mit jedem Zug atmeten wir so schlechtes Gewissen. Er hatte ja recht. Wie so oft. Doch er ließ uns gewähren.
Verbote waren seine Sache nicht. Geprägt im West-Berlin der späten 70er-Jahre. Er saugte gierig den Status der Insel auf. Eingezäunt. In Freiheit. Das pulsierende, bunte, politische Gemisch. Mit jeder Pore seines Körpers, seiner Seele. Schrieb sich an der Uni ein. BWL? Zu langweilig! Er wandte sich der Musik zu. Er musste. Es ging nicht anders. Um sich auszudrücken, wie er erklärte. Er spielte mit späteren Stars zusammen. Von Spliff, Ideal. Sogar der Big Band des SFB. Produzent war Udo Arndt, der Nina Hagen, Nena oder die Rainbirds an die Spitze der Charts brachte. Er wurde vom legendären Jim Rakete fotografiert. Kebabträume in der Mauerstadt. Auf der Suche nach dem großen Hit. Der ausblieb, weil ihn die Plattenfirma als Abschreibungsprojekt nutzte.
Er nahm sich ein Taxi. Eines? Das war ihm zu wenig. Er startete durch. Mit Vollgas in die Zukunft. Motto: Ein Mann will nach oben. Wie im gleichnamigen Roman von Hans Fallada. Er baute ein Fuhrunternehmen auf. Seine Droschken gehörten bald zum Stadtbild wie der Funkturm.
Neue Ziele mussten her. Er fand sie beim Sport. Besser gesagt Eishockey. Er wollte dem Berliner Schlittschuh-Club neues Leben einhauchen. Der Deutsche Rekordmeister wurde durch ihn aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Große Namen standen im Erika-Hess-Stadion auf dem Eis. Auch aus dem ehemaligen Ost-Berlin. Radant, Ziesche, Plotka, Proske, Deutscher. Um nur einige zu nennen. Für das Stadionheft besorgte er renommierte Journalisten. Die begeistert waren, von seinem ambitionierten Projekt. Es ging bis in die 2. Liga. Leider war es ein Kampf gegen Windmühlen. Er scheiterte. Auch, weil man an der Glockenturmstraße trotz großer Tradition auf Kufen plötzlich lieber Tennis spielte. War aber doch Gewinner. Weil er echte Freunde fand. Freunde fürs Leben.
Irgendwann wurde es ihm in der Stadt zu eng. Er zog aufs Land, übernahm in der Idylle Brandenburgs eine Druckerei, gründete eine Lokalzeitung. Nebenbei meckerte er. Über seinen Herzensverein Hertha BSC. Das passte. Meckern gehört praktisch zur blau-weißen DNA. Zuletzt gab es dafür ja auch genügend Gründe.
Am Ende schloss sich der Kreis. Er war immer noch auf der Suche nach dem großen Hit. Schon gezeichnet von schwerer Krankheit, gab ihm die Musik Halt, hielt ihn am Leben. Plötzlich hatte er den ersehnten Erfolg.Endlich. Stiller Tag, einer seiner selbst produzierten Songs, läuft im Radio hoch und runter. Ein melancholisches Stück. Bei dem man sich von der Melodie tragen lässt, in das man eintaucht, sich fallen lässt, einfach wohlfühlt. Er gab Interviews in Dauerschleife. Obwohl es ihm schon schwer fiel, zu sprechen. "Es ist nicht immer der schnellste Weg, der glücklich macht", sagte er. Er platzte fast vor Stolz, nutze die sozialen Medien, um sein großes Glück zu teilen.
Doch dann musste er wieder ins Krankenhaus. Und plötzlich wurde es still. Ich wunderte mich. Kein Anruf. Keine Textnachricht. Vor allem nach der Derbyniederlage seiner Hertha beim 1. FC Union. Hatte er nichts zu meckern?
Nicht mehr. Er war kurz danach verstorben. Friedlich. Mit sich im Reinen. In Liebe gebettet. Im Spätherbst fiel das letzte Blatt seines dicht bewachsenen Lebensbaumes. Einer aufregenden Achterbahnfahrt. Bunt. Spannend. Schrill. Wild. Mit Empathie. Herz. Viel Herz.
Er würde meckern, wenn wir um ihn weinen. Glückliche Erinnerungen sind die schönste Trauer. Würde er uns zurufen. Dennoch werde ich es vermissen, wenn mein Smartphone am Samstag nach dem Spiel seiner Hertha gegen Augsburg nicht aufleuchtet. Es wird ein stiller Tag.
mit freundlicher Genehmigung von Ronald Toplak